Die Zukunft hat gestern begonnen
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Manfred Dinnes
Aequus Animus, 2010
„Von der Gleichzeitigkeit der Wirklichkeit“
Eine Bildserie von zehn Werken, 2010
Die Wahrnehmung steht in dieser Bildreihe im Vordergrund, wird zur Spur jenes Vorgangs, der in unablässiger Weise jenen Zufluss speist, der unser Denken bestimmt.
Wahrnehmung ist kein in sich abgeschlossener Vorgang, der isoliert betrachtet werden könnte, was bedeutet, dass jedes Wahrgenommene nur deshalb geschehen kann, weil bereits eine lange Reihe ähnlicher Vorgänge eingelagert ist. Was wir also wahrzunehmen vermögen, ist jeweils die Summation eines endlosen Vorgangs aus dem wir unsere Vorstellung nähren. Diese Vorstellung prägt jeweils die Auswahl des Noch- Wahrzunehmenden, die ihrerseits wiederum die Vorstellung um das Neu- Wahrgenommene hinzu – korrigiert. Vorstellung beruht auf einer Vielzahl von Reizen, die unsere Wirklichkeit bilden. Was diesem Wirklichkeitsbild nicht entspricht, wird nicht wahrgenommen. Unsere Wirklichkeit ist eine Erfindung von uns selbst, herausgehoben aus dem Pool unzähliger Möglichkeiten. Vorstellung und Denken stehen demnach in Konflikt zu Wahrgenommen- Wollendem, in dessen Spannungsfeld wir pendeln.
Diesem Vorgang sind die zehn folgenden Bilder gewidmet. Sie zeigen eine Spur dessen, wie sich Struktur der eigenen Vorstellungswelt zu verändern vermag. Das Werk, bildnerisch in Form gebracht, zeigt die eigene Existenz als Momentaufnahme – aneinander gereiht. Der Zustand des gefrorenen Augenblicks gewinnt Substanz im Bild, wird Dokument, zeigt auf. Diese Aufzeichnungen – substrathaft – geben Einblick in die stete Umwandlung. Es geschieht im und am Bild
Eitempera auf handgeschöpftem Büttenpapier, Dammarüberfang
Blattgröße: Höhe – 37 cm, Breite – 52 cm
Gerahmt auf: Höhe – 54 cm, Breite – 70 cm
Schrei der Sonne, 2008
Laudato sie, mi signore, cun tucte le tue creature,
spetialmente messor lo frate sole,
lo qual’è iorno, et allumini noi per loi.
Et ellu è bellu e radiante cun grande splendore,
de te, altissimo, porta significatione.Gelobt seist du, mein Herr,
mit allen deinen Geschöpfen,
zumal dem Herrn Bruder Sonne;
er ist der Tag, und du spendest uns das Licht durch ihn.
Und schön ist er und strahlend in großem Glanz,
dein Sinnbild, o Höchster.– Franziskus von Assisi: Canticum fratris solis vel Laudes creaturarum (XIII secolo)
Unweit des Lago di Bolsena, also altes Etruskerland, schneiden Wassermassen tiefe, skurrile Schluchten in das vulkanische Tuffgestein und das seit Jahrtausenden. An einer dieser senkrechten Wände ist bis heute ein Schriftzug auszumachen: „Schrei der Sonne“. Im Jahre 1990, Dinnes arbeitet gerade an dem zyklischen Werk „West- östlicher Divan“, eine Hommage an Johann Wolfgang v. Goethe, verbringt der Maler hier einige Wochen. Dinnes schneidet diese Buchstaben in eine dieser urweltlichen Wände, begleitet vom tausendfältigen Kreischen der Zikaden in gleißender Sonne. Noch ahnt Dinnes nicht, dass er die nächsten Jahre in Bosnien – Herzegovina verbringen wird, in Mostar.
Der Lago di Bolsena ist ein Kratersee und auf Schritt und Tritt bemerkt man den vulkanischen Ursprung. Turmaline finden sich im See und in den meterhohen Tuffgebilden befinden sich merkwürdige Aschegebilde. Ein Land aus dem Feuer geboren und die im Zenit stehende Sonne heuchelt Trugbilder, begleitet von dem schrillen Gesäge der Zikaden. Ich wandere den steilen Hang hinauf zu einem Feigenbaum, der seines gleichen sucht. In knöcheltiefem Tuffstaub entfaltet er ein Blätterdach, als wolle er die Sterne erreichen. In seinem Wurzelgebälk, tief eingegraben, katakombenähnliche Verliese ohne Zeitbegriff. Jetzt zur Mittagszeit schwitzen die Blätter, glänzen vor Schweiß, der nach Katzenpisse riecht. Im Umkreis geplünderte Gräber, blinde Schächte, geschnitten in den Tuff – Etruskerland – sonnengeboren. Weinstöcke an dürre Holzpfähle gezurrt, schaukeln sacht im Wind als Takelagen zukünftiger Kellerfreuden. Hier haust der Weinbauer, weitab seiner eigentlichen Wohnstätte, weitab von der Frau – Mona oder Lisa. Draußen, weit unten liegt der See, bleiern wie die Luft, wie der Staub, wie die eigene Erschlaffung. Selbst der Schatten brennt auf der Haut. Sarajevo 1990: Hier, am Schnittpunkt mannigfaltiger Kulturkreise, die weit in die Vergangenheit reichen, die sich wie bei einem Wirbel gegenseitig überlagern, bis die Dinge nicht mehr durchschaubar sind, nicht mehr erkennbar ist, was Ursache und was Wirkung ist, versucht Dinnes systematisch aus seinem Bildnerischen Denken heraus Antworten zu finden. Es entsteht Bild um Bild, wie Perlen auf eine Schnur gereiht. Keine Illustration der Gegebenheiten, nicht das visuell Augen- Scheinliche, sondern ein Impuls der zum Sammelpunkt der Vielfalt des Vokabulars des Lebens selbst wird. Genau hier ist die Schnittstelle zu suchen, weshalb Dinnes dieses Werk Johann Wolfgang von Goethe widmet. Ein kosmopolitischer Geist, der zusammenfügt was bis dato unvorstellbar, der Fragen aufwirft, wo niemand Bedarf vermutet. Bei Dinnes sind es Bildwerke, die eine Ahnung von Zeit – Triftungen zum Erscheinen bringen. Ohne Pathos und ohne erhobenem Zeigefinger.
„Und solang du das nicht hast
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“
– Johann Wolfgang v. Goethe: „West- östlicher Divan“Bilder sind das Spiel des Geistes
Die sich im Spiel des Lichtes widerspiegeln
– Dinnes
Vom Klang der Sonne:
Die Sonne tönt ein bisschen: Sie schwingt und pulsiert – die so genannte chromosphärische Oszillation. Dieses Schwingen in den Gashüllen der Sonne könnte man sogar hören, würde das leere All zwischen der Sonne und uns nicht jeglichen Schall „schlucken“. Für den Physiker kein Problem: Er macht den Schall einfach sichtbar. Sie zerlegen das Sonnenlicht in seine Spektralfarben – und schon sehen sie den Schall: Die Ränder der Spektrallinien bewegen sich – sie schwingen im Schall.
Paralleles Denken
Die Entstehung der Welt liegt fernab einer Beobachtungsmöglichkeit weit in der Vergangenheit und ist im Experiment nicht wiederholbar. Die Entstehung ist in der Wissenschaft zwar allgemein akzeptiert, aber nicht direkt überprüfbar. Nur die sich aus ihr ergebenden Voraussagen können geprüft werden. Wenn mit der Theorie andere Phänomene erklärt werden können, ergibt sie Sinn. Elementarer Teil der religiösen Mythen in jeder Kultur sind Ursprungsmythen, in deren Zentrum wiederum der kosmogonische Mythos als Modell für alle Ursprungsmythen besonderes Ansehen genießt. Aufgabe des Mythos ist es, der Welt Sinn zu geben, indem Bestandteile der Erfahrung miteinander in Beziehung gebracht werden. Dabei bezieht sich der Mythos auf eine unbedingte Ebene der Realität (Wahrheit). Der Unterschied zur wissenschaftlichen Theorie besteht darin, dass im Mythos nicht hauptsächlich Verständnis angestrebt wird, sondern – als eine religiöse Tugend – Ergebung.
Malen ist nicht Bild-Werdung von Bestehendem
Wir selbst produzieren uns stets neu. Bewegung aber bedeutet Veränderung. Wir bewegen uns innerhalb der bewegten Welt, sind Teil von ihr, ebenso wie Welt ein Teil von uns ist. Ein Wahrnehmungsakt ist nie isoliert; er ist nur die jüngste Phase eines Ablaufs unendlich vieler ähnlicher Akte, die in der Vergangenheit ausgeführt wurden und im Gedächtnis fortleben. Und ebenso werden zukünftige Wahrnehmungen von den gegenwärtigen vorgeformt, die ihrerseits aufgespeichert und den ihnen vorhergehenden angepasst worden sind. Wahrnehmung und Denken bedingen sich gegenseitig, d. h., einerseits muss der Denkapparat ständig mit der Außenwelt über seine Sinne in Verbindung stehen, andererseits muss das zu Wahrnehmende bereits während des Vorganges so behandelt werden, das es für das Denken brauchbar ist. Wäre es anders, so entglitte bereits beim Wahrnehmen die ungeheuere Fülle von Sinneseindrücken in die Orientierungslosigkeit. Einmal bestehende Wahrnehmungsinhalte müssen also zwangsläufig auf eine gemeinsame Basis hin korrigiert werden in dem Moment, wo eine neue Wahrnehmung aufgenommen wird. „Ich male meine Antworten dem Leben entgegen“
Aus einer solchen Konstellation erwachsen die Gedankenbilder, ohne die der Mensch nicht auskommt. Diese innere Schau erzeugt eine Einstellung, die einer möglichen Struktur der Dinge ein mögliches Bild von Welt zur Seite stellt. Innerhalb dieses Faktorennetzes bewege ich mich als Maler. Es ist der forschende Geist, der Resultate zeitigt, mit denen wir VERSTEHEN lernen.
Die Kategorisierungen innerhalb meiner Bildwerdungen deuten auf jene Schnittstellen menschlichen Geistes, an denen sich Idee formiert – geboren wird. „Ich male meine Antworten dem Leben entgegen“ bedeutet die Akzeptanz der Handlungsbereitschaft, die über das bloße Kunstwerk hinausreicht, das eigene Dasein, die Lebensform selbst mit einbezieht. Dieses Humanum wird im Kunstwerk formiert, existent jedoch muss es im Menschsein werden. Der Mensch ist der Schauplatz der Dinge, die er als Idee entwirft, als Bild formiert und als Modell entwickelt. Das im Sprachraum gebräuchliche „Sich ein Bild von den Dingen machen …“, kann als Forderung gelten, Dinge immer und immer wieder neu zusammen zu setzen, je nach Stand des menschlichen Wissens und seiner Errungenschaften; und dieses nicht zu verallgemeinern, sondern als Möglichkeit zu betrachten. Der Raum also verändert sich in der Zeit und nicht die Zeit verändert den Raum. Dieses neu zu behandelnde Spannungsfeld erfordert eine neue Denk- und Sichtweise, deren Grundsätze sich nicht von bestehenden Sinngehalten nährt, sondern Betrachtungsweisen heranzieht, die uns als Handelnde begreifen im Sinne einer „Neuen Tatsächlichkeit“. Nicht der Inhalt des Bewusstseins steht hier zur Disposition, sondern seine Struktur.
CERN:
Das Akronym CERN leitet sich vom französischen Namen des Rates der mit der Gründung der Organisation beauftragt war, dem Conseil Europeen pour la Recherche Nucleaire, ab. Die offiziellen Namen des CERN sind European Organization for Nuclear Research im Englischen beziehungsweise Organisation Europeenne pour la Recherche Nucleaire im Französischen. Am CERN wird vielfältige physikalische Grundlagenforschung betrieben, bekannt ist es vor allem für seine großen Teilchenbeschleuniger.
Im August 2008 nimmt der „Large Hadron Collider (LHC)“ seine Arbeit auf, der den Tunnel des LEP übernahm, der dafür im Jahr 2000 abgeschaltet wurde. Noch im selben Jahr hatte es einen ersten Hinweis auf die Entstehung eines Quark-Gluon-Plasmas am Relativistic Heavy Ion Collider (RHIC) gegeben, Folgeexperimente am LHC mit dem ALICE-Detektor sind vorgesehen. 2002 gelang die Produktion und Speicherung von mehreren tausend „kalten“ Antiwasserstoff-Atomen durch die ATHENA-Kollaboration, ebenso begann die Datenaufnahme im COMPASS-Experiment Am LHC sollen Energien erreicht werden, die in herkömmlichen Teilchenbeschleunigern bisher nicht möglich waren (bis 14 TeV). Die sind für die Suche nach dem Higgs-Boson, sowie schweren supersymmetrischen Teilchen notwendig; weiterhin für die genauere Untersuchung des Quark-Gluon-Plasmas. Damit Kollisionen bei sehr hohen Energien durchgeführt werden können, muss der Speicherring auf Betriebstemperatur heruntergekühlt und dann kontrolliert hochgefahren werden. Am 8. August 2008 wurden die ersten Protonen in den LHC geschossen, am 10. September 2008 folgte der erste offizielle Rundumlauf von Protonen. Noch vor dem 21. Oktober 2008 soll es zu den ersten Protonen-Kollisionen kommen. Erst nächstes Jahr werden die Teilchenstrahlen dann mit voller Energie aufeinanderprallen. Dabei sollen Temperaturen entstehen, die 100.000 mal heißer sind als im Inneren der Sonne.
Der erste Versuch misslingt.
Am 30. März 2008 haben Forscher im Teilchenbeschleuniger LHC Atomkerne nahezu mit Lichtgeschwindigkeit kollidieren lassen – und sind damit der Simulation des Urknalls so nahe gekommen wie nie zuvor.
In der Abgeschiedenheit der Bergwelt auf einer Höhe von 1700 m entsteht in wochenlanger, konzentriertem Wirken das zyklische Werk
„SCHREI DER SONNE“ – KOSMOGONIA 2008
Wochenlang arbeitet Dinnes von Sonneaufgang bis tief in die Nacht hinein. Spät im September 2008 ist dieses Werk vollendet. Von Anfang an war die Sonne der große Begleiter, manchmal der einzige Begleiter dieser Schöpfung. Einen Tag nach Fertigstellung dieses Werkes beginnt es zu schneien.
Weitere Bilder des Werkes „Schrei der Sonne – Kosmogonia 2008“
Das Trägermaterial besteht aus gepresster Baumwolle, welches in einem speziellen Verfahren aufbereitet wird. Schuppen von Phlogopit- Glimmer, schwimmend aufgetragen und ausgetrocknet, ergeben einen Bildhintergrund, der in seinem Erscheinungsbild sich selbst in seiner Struktur bricht. Farbpigmente in unterschiedlichsten Emulsionen gelöst, werden teils deckend, teils lasierend aufgetragen.
Ein zyklisches Werk in 14 Stationen
Blattgröße: 60 x 60 cm
In Rahmenkasten gefasst: 85 x 85 cm
Entstehungsjahr: 2008
walled in – walled out
„ORPHEUS 2010 – Zeitfenster – NullPunkt“
ist Ausdruck menschlicher Existenz im Zwiespalt mit der eigenen Daseinsbegrenzung. Das Leitbild des endlosen Scheiterns durchzieht dieses, sein Leben und die eigene schöpferische Potenz vergilbt angesichts dieses Bewusstseins zum Klagelaut. Die Zerrissenheit benötigt keine Mänaden; er vollzieht diesen Prozess selbst, an sich selbst zu jeder Stunde, tagein, tagaus, entschwindet zum Schatten.
„Fede e sustanzia di cose sperata
ed argomento delle non parenti“.(„Glaube ist Stoff der Dinge, die wir hoffen
und der Beweisgrund für die unsichtbaren“)
-Dante Alighieri
So wie sich Dante auf dem Weg durch seine eigene Vorstellung von Vergil begleiten lässt – einer Vorstellung von Raumarten und Zeitarten, – durchbricht „Walled in – walled out“- ORPHEUS 2010 – Zeitfenster – NullPunkt“ die bestehende Vorstellung von Wirklichkeit, indem er ihr die Welt der Möglichkeit entgegensetzt. „Zeit – Räume“ und „Raum – Zeiten“. prägt das Werk. Es ist nicht Bild von „Etwas“ – ES IST.
Das Konzept:
Bilder verstellen den Weg
Die übliche Art des Bildes die Wand als Hintergrund zu benützen, wird verlassen. Stattdessen bildet dieses zyklische Werk selbst eine Mauer. Das Werk ist beidseitig zu umgehen, jedoch ist immer nur eine Seite sichtbar. Der gesamte Eindruck kann jeweils nur über die Erinnerung zusammengefügt werden.
Das Bildwerk als Zeitfenster
So wie der Mensch bruchstückhaft aus Tatsächlichkeit ein Wirklichkeitsbild erstellt, verhält sich das Werk. Jedes Ding hat zwei Seiten, immer nur verhalten wir uns einseitig. Dabei lässt sich nicht erörtern, vor welcher Seite wir gerade stehen. Wir ver-mauern uns stets auf’s Neue.
„Walled in – walled out“
ORPHEUS 2010 – Zeitfenster – NullPunkt“ ist Ausdruck der Existenz, die einerseits von der Substanz der Dinge seine Orientierung ableitet, andererseits jedoch das Ding an sich nur von der Warte der Summation von eigenen Erinnerungen und Prägungen wahrzunehmen vermag. Der Mensch als Sammelpunkt gewesener Dinge bewegt sich wie eine Membrane. Er saugt nur ein Bild ab, das einer Abbreviatur gleicht.
„Walled in – walled out“
ORPHEUS 2010 – Zeitfenster – NullPunkt“
Das Werk, bestehend aus sechs Bildwerken mit zwölf Seiten entstand von März bis August 2010
Die Exponate (70 x 70 cm), beidseitig bearbeitet, hängen schwebend in sechs einzelnen Edelstahlrahmen, die ihrerseits wieder in eigenen Ständern aufgehängt sind. Größe der jeweiligen Exponate: Höhe: 220 cm, Breite: 80 cm, Basistiefe der Sockel: 80 x 80 cm, Tiefe der Edelstahlrahmen: 60 mm. Die Konstruktion ist freistehend.